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Lieber Stefan,

ich sitze im Büro und starre auf meinen Bildschirm. Nein, eigentlich starren meine Augen in die Leere. Sie werden langsam feucht. Das Bild verschwimmt und doch: Es fühlt sich so verdammt befreiend an! Als wäre ich aus einem jahrelangen Dämmerschlaf aufgewacht. Ich fühle mich stark, ich fühle mich gut.

Kannst du dir das vorstellen?

Irgendwie war ich zwar da, körperlich anwesend, aber der Autopilot hatte längst das Steuer übernommen. Ich funktionierte nur noch. Versuchte es zumindest. Alles beschränkte sich auf das Minimum. Von außen betrachtet eine leere Hülle. Ablenkung und Verdrängung hielten mein grobmaschiges Kettenhemd notdürftig zusammen. Ich zog mich zurück. Jeden Tag ein bisschen mehr. Wenn es dann doch mal unerträglich wurde, kaufte ich mir irgendeine Scheiße, die ich eigentlich gar nicht brauchte. Die Aufmunterung währte immer nur kurz.

Wie in vielen Familien, sind oberflächlich erst mal alle für dich da. Über unangenehme oder ernste Themen konnten wir jedoch nie wirklich reden. Es funktioniert einfach nicht. Schon von meiner Seite aus: Hemmungen. Vielleicht weil ich es nie gelernt habe oder nie lernen wollte. Wahrscheinlich weniger, weil es mir nie beigebracht wurde – sondern eher, weil es einfach seit jeher so vorgelebt wurde. Ist ja auch viel bequemer, als sich seinen Ängsten, Sorgen und Problemen zu stellen. Unterbewusst nimmt man doch so einiges mit. Auf die Frage „Wie geht es dir?“ kam schon immer die Antwort „Ja, schon okay.“ Egal, wer in welche Richtung gefragt oder geantwortet hat. Da ist es wieder, das nur spärlich schützende Kettenhemd mit viel zu groben Maschen zusammengehalten von nichts außer Verdrängung und Ablenkung.

Abwärts.

Der Niedergang verlief anfangs schleichend. Ich bin immer weniger raus gegangen. Habe mich kaum noch bei meinen Freunden gemeldet, immer öfter einfach abgesagt oder gar nicht erst gemeldet. Gründe gesucht – und gefunden – nicht erscheinen zu müssen. Social-Media – oder besser Social-Methadon – kickte, wie jede Ersatzdroge, irgendwann einfach nicht mehr. Mir wurde nur vor Augen geführt, was für vermeintlich geile Leben die Anderen führen und das deren Leben immer mehr und besser auch ganz gut ohne mich stattfinden. Dann bin ich einfach alles und jedem aus dem Weg gegangen. Habe mich damit selbst belogen, dass ich jetzt zu alt oder zu erwachsen für so einen Scheiß sei. Wollte einfach ankommen und klammerte mich dafür an Illusionen fest. Verlor – natürlich – den Halt und stürzte nur noch tiefer in ein dunkles Loch.

Bullshit!

Obwohl ich es wahrlich nicht verdient habe, gaben mich meine Freunde nie wirklich ganz auf. Sie hatten immer einen Funken Hoffnung. Sogar als ich mich irgendwann einfach gar nicht mehr gemeldet habe.

Drei Tage ist es jetzt her, seit wir uns ausgesprochen haben und ich einfach unkontrolliert alles herausgelassen habe, was die verdammten letzten Jahre tief in mir drin war. Das grobmaschige Kettenhemd aus Verdrängung wurde aufgerissen. Darunter kam dann langsam der Mensch zum Vorschein, den meine Freunde nicht aufgeben wollten – nicht aufgeben konnten. Es fühlte sich ein bisschen so an, wie wenn du nach einer durchzechten Nacht am nächsten Morgen kotzen gehst. Es war nicht schön. Es tat ziemlich weh. Aber es ist befreiend. Danach, wenn du dich wieder ein wenig beruhigt hast, geht es dir gleich viel besser. Du bist vielleicht anfangs noch ein bisschen wackelig auf den Beinen, aber du weißt, dass es der richtige Schritt war um dich selbst zu heilen und gehst gestärkt aus der Sache raus.

Meine Gedanken niederzuschreiben fällt mir erstaunlich leicht, es befreit und beflügelt. Ich habe wieder richtig Bock. Auf meine Freunde, auf meine Familie, auf die Arbeit, auf das Leben.

Was mir dann doch schwer fällt, ist das Ganze auch wirklich zu veröffentlichen. Wir leben in einer Zeit der Selbstdarstellung und Selbstoptimierung. Ich bin mir der möglichen Tragweite der Veröffentlichung meiner Gedanken bewusst und habe entschieden, dass es notwendig ist. Drauf geschissen. Lieber ehrlichen Herzens in der Bedeutungslosigkeit verschwinden, aber dafür jeden Morgen mit einem Lächeln in den Spiegel blicken, als selbstoptimiert sein fucking Instagame upzusteppen!

Wahrscheinlich ist es meiner Art mit der ganzen Geschichte abzuschließen, einen Haken darunter zu machen und erhobenen Hauptes voller Glück weiterzugehen. Jeder Weg ist in Ordnung. Ich wähle diesen Weg. Auch ein wenig als Mahnung an mich selbst, dass ich es nie wieder so weit kommen lassen. Da ist es hilfreich, wenn es ein bisschen mehr Überwindung kostet, ein bisschen mehr weh tut und ein bisschen unangenehmer ist.

Wenn es aber nur einen Menschen erreicht, dem es ähnlich geht und es vielleicht sogar hilft, das Richtige zu tun, hat es sich schon gelohnt!

Es hilft niemandem, wenn du versuchst den Helden zu spielen.
Am aller wenigsten dir selbst!

Weißt du, ich werde dieses Jahr 32. Ich habe also rund die Hälfte (wenn es gut läuft, das Drittel) meines Lebens hinter mir.
Das Leben ist doch viel zu wertvoll, um es einfach so wegzuwerfen. Vor allem wenn man eine handvoll Herzensmenschen um sich hat, die einen nie aufgeben werden. An alle, die sich im letzten Satz wiederfinden: Fühlt euch von mir gedrückt!

Ich habe eine wichtige Lektion für das Leben gelernt:

Es ist keine Schande sich helfen zu lassen. Es fällt mitunter schwer, aber es lohnt sich. Glaub mir!
Du kannst von niemandem erwarten, zu wissen was in dir vorgeht, wenn du nicht darüber sprichst.

Liebe,
Stefan

P.S.: Wenn du jemanden hast, dann rede mit ihm über deine Sorgen – lieber früher, als zu spät. Je länger du dir Zeit lässt, desto schwieriger wird es – für alle Beteiligten. Ich weiß das nun und habe daraus gelernt.
Versprich mir einfach, dass du nicht den gleichen Fehler begehst!
Wenn es dir ähnlich geht und du aber niemandem zum Reden hast, findest du anonym, kostenlos und rund um die Uhr Hilfe bei der Telefonseelsorge

Die Telefonnummern sind 0 800 / 111 0 111 und 0 800 / 111 0 222.

Das muslimische Seelsorgetelefon ist rund um die Uhr unter der Telefonnummer 030 / 44 35 09 821 erreichbar.